Der Weihnachtsbussard:

Diese Geschichte ist etwas länger her, aber sie ist einfach erzählenswert, weil sie davon zeugt, was Menschen auf sich nehmen, um ein Tier zu retten.

Heiligabend, später Nachmittag, irgendwann in der 2000er Jahren, es hat starker Schneefall bei uns am Niederrhein eingesetzt und wer kann, bleibt zuhause und genießt das Weihnachtsfest. Ich bin in den Vorbereitungen zu einem festlichen Abendessen, welches ich mit meinem Lebensgefährten, meinen Eltern und meiner Schwester genießen möchte. Das Telefon klingelt und eine Frau aus einer Stadt, knappe 20 Kilometer entfernt, schildert mir, dass sie seit Tagen einen Bussard in ihrem Garten beobachtet, der offensichtlich gesundheitliche Probleme hat. Diverse Einfangversuche der örtlichen Feuerwehr und anderer Tierschützer seien bis dato missglückt.

Nun aber, ausgerechnet am Heiligen Abend läge der Bussard komplett entkräftet auf ihrer Terrasse und an den Federn bilden sich schon Eiskristalle. Auf meine Bitte hin, schnappt ihr Mann sich den inzwischen wehrlosen Vogel und setzt ihn in einen Karton, den er dann in einen moderat warmen Raum stellt. Aber nun beginnt das gemeinsame Grübeln, ich kann weder das Essen ruinieren noch mit meinem eher sportlich ausgelegten Auto bei diesen Straßenbedingungen den Vogel selbst abholen. Recht ähnlich ist die Situation bei den Findern.

Also habe ich spontan die Taxi-Zentrale des Fundortes angerufen und der Dame, die dort ihren Dienst tat, die Situation geschildert. Die Antwort war ebenso lustig wie erleichternd: „Wissen sie was, das ist doch endlich mal Abwechslung an einem eher langweiligen Abend in meinem Job. Ich habe gerade einen Mitarbeiter auf Tour, der so tier-verrückt ist, dass er den Transport bestimmt auf sich nimmt, egal wie die Straßenverhältnisse sind. Geben sie mir Abhol- und Lieferadresse, wir kriegen das hin.“

Insgesamt mussten wir uns fast zwei Stunden in Geduld üben, aber plötzlich klingelte es und ein aufgeregter Mann stand vor der Tür. Der Karton sei in seinem Wagen, aber er glaube nicht, dass der arme Vogel noch lebt. Wir haben ihn gemeinsam reingebracht und tatsächlich war noch Leben in dem unterkühlten, abgemagerten Bussardweibchen. Da meine Schwester zu dieser als Soldatin im medizinischen Bereich tätig war, war sie – da wir keinen Tierarzt zur Verfügung hatten - die einzige medizinische Hoffnung für den Bussi.

Wir haben uns kurz beratschlagt und beschlossen, ihn langsam aufzuwärmen, denn so kennt man es aus der Humanmedizin. Dazu, da wir keine lange Ursachenforschung betreiben konnten, haben wir ein Antibiotikum (ebenfalls aus der Humanmedizin) in der Dosis auf sein Gewicht runtergerechnet und ihm eine Infusion für den Flüssigkeitshaushalt gesetzt. Aufgrund der schon länger vereisten Felder in der Umgebung befanden sich zu dieser Zeit bereits zehn weitere Bussarde als Hungeropfer auf unserer Station, denn der Nahrungserwerb, also Mäusefang, war schier unmöglich.

Wir haben dann unseren Weihnachtsbussi auf eine lauwarme Heizdecke gelegt und zugedeckt. So lag er nun im großen Untersuchungsraum, der aufgrund des Ansturms an hungrigen Bussarden zum Krankenzimmer umfunktioniert war. Mehr konnten wir nicht tun, also ging es wieder in den Wohnbereich, wo wir uns ans Abendessen machten. Später, zwischen Hauptgang und Nachtisch, habe ich mich entschlossen, kurz nach unserem Patienten zu sehen.

Schon auf dem Weg dahin, kreisten in meinem Kopf die Gedanken, wie ich die zu erwartende schlechte Nachricht nicht nur meiner Familie, sondern auch den Findern überbringe. Natürlich müssen wir solche Nachrichten öfter verkünden, aber gerade an Weihnachten und mit der halsbrecherischen Tour des Taxifahrers, bedrückte mich die Situation mehr als sonst.

Ich war der festen Überzeugung, dass der arme Kerl es einfach nicht schaffen konnte, er war so dünn und kalt als er ankam, dass an eine Umkehr des eindeutig eingeleiteten Sterbeprozesses aus meiner Sicht nicht zu denken war.

Und dann geschah mein bis heute schönstes Weihnachtswunder:

Mitten im Zimmer, selbstständig aus seinem Wärmebett gekrabbelt, stand aufrecht unser Weihnachtsbussard und starrte ebenso misstrauisch wie aufmerksam zu mir rüber.

Vollkommen überwältigt und unfassbar glücklich habe ich den Futterkühlschrank aufgerissen und statt Nachtisch für meine Familie erstmal ein leicht verdauliches Weihnachtsessen für den Bussard gezaubert.

Nach so einer langen Hungerphase ist es für den Greifvogelorganismus einfacher, sogenanntes schieres Fleisch, also fettarm, ohne Knochen und Fell, zu verstoffwechseln. Ich erspare dem Leser die Details. Beim Servieren wurde direkt klar, wie ausgehungert der Vogel war, denn ohne große Scheu machte er sich noch in meinem Beisein über die erste Portion her.

Wir haben uns dann noch die Zeit genommen, die Finder anzurufen und ihnen die guten Neuigkeiten zu schildern. Natürlich mit verhaltenem Optimismus, denn über den Berg war der Bussard noch lange nicht. Die Freude war trotzdem groß und sie erzählten mir, dass ihre Kinder vor lauter Aufregung und Sorge um den Bussard, bis dato auf die Bescherung verzichtet hatten und stattdessen unter dem Weihnachtsbaum saßen und für den Vogel gebetet hatten.

Auch wenn ich zwei Generationen zurück ausländische Wurzeln habe, ist meine Familie im Herzen urniederrheinisch und somit wurde bei uns zu Ehren des Bussards ordentlich das Glas gehoben. Wir haben so lange und heftig gefeiert, dass der Vogel sein Frühstück am ersten Weihnachtstag von einer extrem verkaterten Servicekraft, also mir, kredenzt bekam. Schlussendlich hat das Bussardweib zwei Wochen benötigt, um wieder zu Kräften zu kommen und in einer Voliere die Muskulatur aufzubauen.

Die anschließende Freilassung am Fundort wurde von der Familie der Finder sowie vielen Nachbarn und Nachbarskindern begleitet. Die inzwischen schnee- und eisfreien Felder waren wieder als mäuse-jagd-tauglich zu bezeichnen und das sich bessernde Wetter lies es zu, dass die Bewohner der kleinen Seitenstraße am Feld regelmäßig Spaziergänge machten und unser Bussardweibchen weiterhin beobachten konnten.

Fazit: Es ist immer schön, Menschen kennenzulernen, die bereit sind, Tiere zu retten und auch mal ungewöhnliche Einsätze zu machen. Und es ist schön, wenn am Heiligen Abend der Grund für ein, zwei Gläser zu viel mit dem Taxi gebracht wird und man sich nicht selbst drum kümmern muss, ihn zu finden.

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